

„My most fervent wish is that I will not be replaced until a new president is installed.“
So diktierte Ruth Bader Ginsberg ihrer Enkelin wenige Tage vor ihrem Tod. Quelle npr.org
Meine Gefühle schwanken zwischen Dankbarkeit, Trauer, Angst und Wut.
Dabei muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich bis heute gar nicht so viel über Ruth Bader Ginsberg (RBG) wusste. Doch die Nachricht über ihren Tod hat Samstag Morgen ganz Twitter umgetrieben – und neben Beileidsbekundigungen reagierten viele auch mit einem simplen „Fuck“ oder „No“. Dass sie zur liberal (ich verwende den englischen Begriff, weil der nicht mit dem, was in Deutschland unter „liberal“ im politischen Sinne verstanden wird, identisch ist) Seite des Supreme Court gehörte, wusste ich natürlich und auch, was es bedeuten würde, wenn Trump noch jetzt vor den Wahlen Anfang November den Senat (mehrheitlich republikanisch) dazu bewegen könnte, einen Richter nach Trumps Gusto einzusetzen – dann stünden drei liberale Richter sechs konservativen gegenüber… Wenn dann Trump a) noch einmal gewänne (oder gewönne, beides existiert laut Duden) oder b) knapp verlöre und das Ergebnis anföchte, hätte er den Supreme Court unter Umständen klar auf seiner Seite. Dieses Szenario macht mir Angst.
Wütend macht mich, dass jetzt schon von allen Seiten von den Republikanern – natürlich auch Trump – gefordert wird, jetzt möglichst schnell einen neuen Richter einzusetzen. Und das, obwohl der Senat (Senate Leader Mitch McConnell) sich 2016 geweigert hat, im Wahljahr (jedoch neun Monate vor der Wahl!) über den von Obama vorgeschlagenen Kandidaten abzustimmen. Jetzt ist natürlich alles anders und der Hashtag #FillTheSeat trendet bei Anhängern der Republikanern…

Die noch ekelhafteren Tweets gegen RBG (z. B. von sogenannten „Pro-Life“ Abtreibungsgegnern) will ich gar nicht hier wiedergeben…
Jetzt habe ich den Dokumentarfilm RBG (- Ein Leben für die Gerechtigkeit; 2018) auf Amazon Prime angesehen und bin voller Bewunderung für diese Frau, die sich ihr ganzes Leben lang für Gleichberechtigung in den USA eingesetzt hat – und Frauen durch ihre Stellung am Obersten Gerichtshof auch gezeigt hat: Die Verfassung ist auf eurer Seite.
Bei ihrem Kampf für Gleichberechtigung hat sie auch mal „die Seiten gewechselt“ und 1975 einen alleinerziehenden Vater vertreten, dem als Witwer keine finanzielle Unterstützung zugestanden wurden, weil diese Zuwendungen nur für Witwen vorgesehen waren. Aber auch dieser Fall zeigte natürlich, dass Frauen und Männer eben nicht gleich vor dem Gesetz waren.
Seitdem sie Supreme Court Justice war, wurde sie auch berühmt-berüchtigt für ihren „Dissent“, also dass sie sich auch gegen die Mehrheitsmeinung der anderen Richter gestellt hat und das auch immer sehr klar formuliert hat. So wurde „I dissent“ ein beliebtes Motiv für allerlei Merchandise und sie bekam den Spitznamen „Notorious RBG“:

RBG hat für die Gleichberechtigung – nicht nur von Frauen – in den USA enorm viel bewegt und hat dafür auch meinen Dank, auch wenn ich natürlich nicht direkt davon betroffen bin. Doch sie hat mich auch durch ihre Freundschaft zu ihrem Kollegen Antonin Scalia (gest. 2016) beeindruckt. Die beiden standen politisch sehr weit auseinander, hatten z. Tl. wirklich völlig andere Rechtsauffassungen, und trotzdem verband sie eine innige Freundschaft. Das ist in der heutigen aufgeheizten Stimmung zwischen den politischen Lagern kaum vorstellbar.
Auch an mir selbst habe ich das beobachtet – kann ich Trump-Anhänger*innen, Afd-ler*innen, Coronaleugner*nnen, Terfs, homophoben Menschen etc. so entgegentreten, dass ich die Politik beiseite lassen kann? Wie gehe ich damit um, wenn ein Mensch, den ich eigentlich schätze, politische und/oder weltanschauliche Meinungen vertritt, die meinen krass widersprechen? Ganz ehrlich: Ich habe Ruth Bader Ginsbergs Größe nicht (mehr?). Schon kleinste Reibungen können mich nachhaltig beschäftigen und wenn es um Grundsätzliches geht, schotte ich mich meistens ab – umgebe mich mit Leuten aus derselben „Bubble“.
Ich frage mich, ob das schon immer so war. Es scheint mir aber in den letzten Jahren eher zugenommen zu haben. Man könnte es so interpretieren: Ich stehe mehr zu meiner eigenen Meinung, ja, und ich meine wohl auch, auf der „richtigen Seite“, auf der „Seite der Guten“ zu stehen. Da fällt es schwerer, andere Meinungen auszuhalten, und das Gegenüber erstmal so zu akzeptieren, wie er*sie ist. Ich erfahre z. B., dass der Schauspieler Dean Cain, den ich auf einer Comiccon als sehr sympathisch und aufgeschlossen wahrgenommen habe, Trump-Anhänger ist, und schon ist meine positive Erinnerung an ihn mit einem Makel behaftet und das gemeinsame Foto mit seinem Autogramm darauf verschwindet ganz unten im Stapel.
So sehr es wichtig ist, Stellung zu beziehen und für seine Meinung einzustehen, zeigt RBGs Beispiel doch, dass man nicht automatisch alle Menschen aus seinem Leben verbannen muss (soll?), die anderer Meinung sind. Das gibt mir zu denken. Wäre das nicht eine Möglichkeit, die tiefen Gräben zu überbrücken, zwischen MAGAs und VoteBlue-Anhängern in den USA, zwischen Brexiters und Remainers in UK, aber auch hier bei uns in Deutschland? Was meint ihr? Ich fürchte, es ist eine utopische Vorstellung, aber gleichzeitig weiß ich langsam nicht mehr, wie eine Versöhnung erwirkt werden könnte. Das macht mich wieder traurig und es macht mir schmerzlich bewusst, dass Ruth Bader Ginsberg fehlen wird.

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